Dreimal „6 Richtige“ – sechs Protonen, Neutronen und Elektronen: Das ist der (Kohlen-)Stoff, aus dem die Träume respektive Lösungen von SGL Carbon sind. Am zweitgrößten Standort des Unternehmens in Bonn werden Materialien und Produkte aus Spezialgraphit und Verbundwerkstoffen produziert – für Automobilhersteller, Halbleitertechnik, Solarenergie sowie die LED-Industrie.
Im Auto, im PC und auf dem Dach: Die „Made in Bonn“-Produkte von SGL Carbon spielen bei vielen Dingen des modernen Lebens eine wichtige Rolle. Sie kommen bei der Produktion von Halbleitern zum Einsatz, die man in jedem Computer findet, bei der Herstellung von monokristallinem Silizium für Solarzellen und als Rotoren in Flüssigkeits- und Vakuumpumpen von Automotoren.
Die Produktion von Graphitkomponenten auf dem Fabrikgelände an der Mehlemer Bahntrasse, das vielen noch als „Ringsdorff-Werke“ im Gedächtnis ist, hat eine über 100 Jahre alte Tradition. Seit 1992 gehört das Werk zur SGL Carbon, einem der weltweit führenden Unternehmen in der Entwicklung und Herstellung von kohlenstoffbasierten Lösungen, und ist mit einer Fläche von 17 Fußballfeldern der größte Standort des Geschäftsbereichs „Graphite Materials & Systems (GMS)“, der neben „Composites – Fibers & Materials (CFM)“ und Central Innovation (CI) das Kerngeschäft der SGL Carbon ausmacht.
Jedem der insgesamt 31 Standorte auf drei Kontinenten (Europa, Nordamerika, Asien) wurde ein eigener Leitwerkstatus (Lead-Plant-Status) zugeordnet. „Bonn hat die Technologieverantwortung für Iso-Graphit und die Serienfertigung von Bauteilen für die Automobilindustrie“, erklärt Robert Michels
(s. Foto links), der seit Oktober 2019 Standortleiter im Rheinland ist und parallel dazu noch eine koordinierende Leitungsfunktion am größten SGL-Werk in Meitingen bei Augsburg hat.
Mit 35 Jahren Betriebszugehörigkeit kann man den bayerischen Neu-Bonner ruhigen Gewissens als „alten Hasen“ bezeichnen. „Ich war 18 Jahre im Vertrieb und kenne viele unserer Produkte, was es mir leicht gemacht hat, hier Fuß zu fassen“, sagt der bekennende „Di-Mi-Do“-Pendler, der freitags und montags in seiner Heimat Meitingen arbeitet.
Multitalent Carbon
„Er ist sehr kontaktfreudig und geht gerne Bindungen ein, die ebenso stark wie flexibel sind.“ Was klingt wie das Dating-Profil eines Partnersuchenden, macht den Kohlenstoff (Carbon) zu einem wahren Tausendsassa, der an mehr chemischen Verbindungen beteiligt ist als jeder andere Vertreter im Periodensystem.
Das Elementsymbol „C“ steckt auch im SGL-Logo, dessen früher geschlossener Kohlenstoffring Mitte 2018 „geöffnet“ wurde. Als Symbol für die neue Ausrichtung. „Wir arbeiten jetzt noch enger mit unseren Kunden zusammen“, erklärt der Bonner Standortleiter, „aber auch für gemeinsame Entwicklungen mit Hochschulen und der Wissenschaft sind wir seit jeher offen.“
Auch der auf Kohlenstoff basierende Graphit ist ein Multitalent, der dort zur Höchstform aufläuft, wo es richtig heiß wird: im glühenden Kern von Hochtemperaturanwendungen beim Schmelzen, Gießen und Formen. „Einkristalle für Halbleiter zum Beispiel werden bei etwa 1650 °C hergestellt“, führt Michels an.
Während andere metallischen Werkstoffe bei diesen Temperaturen im wahrsten Sinne des Wortes „schlappmachen“ würden, haben die SGL-Komponenten aus Graphit und Kohlenstoffmaterialien hier ihren großen Auftritt – von der Isolierung bis zum heißen Kern. Graphit lässt sich außerdem gut zerspanen und punktet mit exzellenter Gleiteigenschaft sowie elektrischer und thermischer Leitfähigkeit. „Diese Eigenschaften passen genau zu den Industrien, die wir damit bedienen“, so Michels.
Bei der Herstellung des Graphits werden dazu Kokse und andere Stoffe gemischt und in großen Pressen in Form gebracht. Die Carbonisierung (bei ca. 1000 C) macht das Material hart und abriebfest, während die nachfolgende Graphitierung (bei ca. 3000 C) für hohe Reinheit, thermische und elektrische Leitfähigkeit sowie eine ausgezeichnete Korrosionsbeständigkeit sorgt.
Einen Löwenanteil des Bonner Geschäfts machen Graphite für Anwendungen im Halbleiter- und LED-Sektor aus, die mit der sogenannten isostatischen Presse hergestellt werden. Dabei entsteht ein sehr feines Material. Das zeigt sich auch an einer sehr homogenen Oberfläche. „Mit bloßem Auge sind fast keine Poren mehr zu erkennen, so fein ist die Struktur“, sagt Michels.
Sind gar keine Poren erwünscht, wird zusätzlich mit verschiedenen Harzen oder Metallen imprägniert. „Das spielt zum Beispiel bei Trägerplatten eine große Rolle, auf denen Chips für Computer und LEDs beschichtet werden“, erklärt der Experte. „Diese Werkstoffe müssen besonders rein sein und dabei neben der statischen Festigkeit hohe Temperaturen und chemische Belastungen aushalten.“ Die Graphit-Bauteile überstehen das alles ohne Probleme.
Klasse in Massen
Der Bonner SGL-Standort ist nach eigenen Angaben zudem führend in der Entwicklung und Umsetzung millionenfacher Serienfertigung von graphitbasierten Automobilteilen für Pumpen, Lagerteile und Gleitlager. „Die Materialbasis ist ähnlich wie bei den Halbleiter- und LED-Lösungen“, so Michels, „nur dass die Bauteile hier sehr klein sind und direkt in Form gepresst und anschließend carbonisiert werden.“
Und zwar so „fertigkonturnah“ wie möglich. Aufgrund unvermeidbarer Schrumpfprozesse wird dann mechanisch nachgearbeitet (Schleifen, Polieren, Drehen). „Es gelten in der Automobilbranche Toleranzen mit nur wenigen µ, damit am Ende alle Teile haargenau zusammenpassen“, betont der Fachmann. Mit den so genannten PTS (Pressed-to-Size)-Bauteilen werden verschiedenste Automobilzulieferer weltweit beliefert. Die Bauteile des Mehlemer Werks findet man in vielen Modellen großer Automarken von A wie Audi bis V wie Volvo.
Das insgesamt 125.000 m2 große Fabrikgelände ist in zwei Areale aufgeteilt. Werk Süd an der Drachenburgstraße konzentriert sich auf die Vormaterialherstellung (Graphitfertigung). Diese sogenannten Halbzeuge gehen dann zur Bearbeitung rüber ins Werk Nord an der Galileistraße, um dort die vom Kunden gewünschte Endgeometrie zu erhalten.
„Die Halbzeuge werden vor Ort in Bonn gefertigt oder auch an anderen SGL-Standorten“, berichtet Michels. „Zudem verkaufen wir teilweise Halbzeuge auch an Kunden, die die Bearbeitung selber übernehmen.“ Daneben realisiert man Industrie- und Maschinenbauteile für Hochtemperaturanwendungen als sofort einsetzbare individuelle Komponenten. „Wir bilden die gesamte Wertschöpfungskette ab“, bekräftigt Michels. „Vom Rohstoff über Zwischenstufen und Halbfertigerzeugnisse bis hin zu maßgeschneiderten Lösungen und Bauteilen.“
Bonn auf Wachstumskurs
Die SGL Carbon hat in den letzten Jahren kontinuierlich in den Standort Bonn investiert, dessen Belegschaft von 620 (Mitte 2016) über 804 (Anfang 2018) auf heute 870 Beschäftigte und zusätzliche Leiharbeiter angewachsen ist. So wurde 2014 im Werk Süd die weltweit größte Presse für den besonders feinkörnigen und reinen isostatisch gepressten Graphit aufgebaut.
Zudem flossen in den letzten drei Jahren insgesamt rund 25 Mio. Euro in die Modernisierung und Er-weiterung der Fertigungskapazitäten für Automobilkomponenten aus Spezialgraphit. „Im Januar haben wir das Ende 2019 abgeschlossene Ausbauprojekt mit einer Feier offiziell eingeweiht“, berichtet Michels. Realisiert wurden im Zuge dessen neben der Installation teils neuer Produktionsanlagen und eines modernisierten Produktionsaufbaus auch eine neue 2000 qm große Halle für die Herstellung von Automotive-Teilen. „Das ist ein klares Bekenntnis des Vorstands zum Standort“, betont Michels.
Auf gute Nachbarschaft
Mitten im Wohngebiet gelegen, kommt dem Bonner Kohlenstoff-Spezialisten auch eine besondere Verantwortung für Umfeld und Umwelt zu. „Wir nehmen diese Verantwortung entsprechend ernst“, versichert Michels, „und investieren kontinuierlich in modernste Umweltanlagen.“ Derzeit befindet sich eine neue Abluft-Reinigungsanlage in Planung. „Wir haben vor, zu der bestehenden Umweltanlage parallel eine größere, modernere und effizientere aufzubauen“, so Michels.
Kombiniert mit Prozessoptimierung und neuen Technologien wollen die Bonner einen Beitrag zum globalen Unternehmensziel der SGL Carbon leisten, den spezifischen Energieverbrauch jedes Jahr um ein Prozent zu senken. „Wir versuchen außerdem, so viel Material wie möglich wiederzuverwenden“, fügt Michels hinzu. Bei der Produktion wird möglichst wenig bis gar kein Abfall erzeugt oder dieser wieder recycelt. „Zum Beispiel werden unsere Bearbeitungsstäube wieder den Prozessen zugeführt oder an externe Kunden für deren Anwendungen verkauft.“
Fachkräfte „selbstgemacht“
Das Thema Ausbildung hat für die Rheinländer SGLer einen hohen Stellenwert, was nicht nur ihr Engagement im Berufsbildungsausschuss der IHK-Bonn/Rhein-Sieg beweist, sondern auch Gesprächsthema beim Werksbesuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit seiner Ehefrau Elke Büdenbender im August 2018 war.
Derzeit gibt es am Bonner Standort ca. 35 Azubis in den Berufen Zerspanungsmechaniker/-in, Industriemechaniker/-in, Maschinen- und Anlagenführer/-in, Elektroniker/-in für Betriebstechnik, Stoffprüfer/-in, sowie Industriekaufleute. „Wir bilden gezielt für die Berufe aus, die wir brauchen“, erklärt Michels. Jedes Jahr werden mindestens zehn neue Auszubildende eingestellt, deren Übernahmequote bei nahezu 100 Prozent liegt.
Rund ein Viertel der aktuell 870 Mitarbeitenden mit Hintergründen aus mehr als 20 Ländern stammt aus den eigenen Ausbildungsreihen. „Viele haben sich weitergebildet und arbeiten heute als Facharbeiter, Experten oder Führungskräfte“, berichtet Michels. Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit beträgt 16 Jahre. „Das zeigt auch die enge Verbundenheit mit der SGL und dem Standort.“
Zukunftsvisionen
Als technologiebasiertes Unternehmen hat die SGL Carbon den Wandel und Fortschritt nicht nur im Blick, sondern ist aktiv daran beteiligt. Die hauseigene Ideenschmiede liegt neben den lokalen, fertigungsnahen Forschungen in Meitingen, wo die SGL-Zentralforschung „Central Innovation“ sitzt und kürzlich zudem ein „Carbon Campus“ ins Leben gerufen wurde. Hier arbeiten über 200 Forscher, Entwickler und Fachexperten an zukunftsweisenden Fragen bezüglich Mobilität, Energieeffizienz und 3D-Druck. „Davon profitieren alle Standorte weltweit“, konstatiert Michels. Die SGL Carbon ist außerdem an einer Vielzahl von Förderprojekten in unterschiedlichsten Bereichen beteiligt. „Das alles sind spannende Entwicklungen“, findet der Bonner Standortleiter.
Martina Sondermann, freie Journalistin, Bonn
Standort: Bad Godesberg-Mehlem (Fläche: 125.000 m2)
Standortleiter: Robert Michels
Gründungsjahr: 1992 (vormals Ringsdorff-Werke)
Umsatz: rund 1,1 Mrd. Euro in 2019 (SGL Carbon SE gesamt)
Beschäftigte: 870 (plus Leiharbeitende)
Besonderheiten: weltweit größte Presse für isostatischen Graphit
Produkte: Graphit- und Kohlenstoffprodukte für Halbleiter-, Solar-, LED- und Automotive-Industrie sowie Hochtemperaturanwendungen, Maschinen- und Ofenbau
Kunden: Automobilzulieferer, Anlagenbauer und Endkunden aus der LED-, Halbleiter- und Solarbranche sowie der Industrie
Internet: www.sglcarbon.com